Das Gefangenendilemma beim digitalen Produktpass: und wie wir es lösen

Weniger als neun Prozent.

Das ist der Grad, in dem die Weltwirtschaft derzeit zirkular funktioniert; das sagt der 2022 Circularity GAP Report Damit die Menschheit eine Zukunft auf diesem Planeten hat, müssen wir diese Zahl mindestens verdoppeln, und zwar schnell. Aber leider stagniert momentan die Entwicklung oder tendiert sogar nach unten.

In meinem letzten LinkedIn-Artikelhabe ich aufgezeigt, dass digitale Technologie grenzenloses Wachstum in einer Welt mit begrenzten Ressourcen schaffen kann. Dass sie Werte für Aktionäre erzeugen kann, ohne wertvolle Natur zu zerstören. Dass sie uns ermöglicht, die Erde zu einem besseren Ort für alle zu machen, ausdrücklich auch für künftige Generationen. Es war eine hoffnungsvolle Botschaft, an die ich immer noch glaube. Zugleich müssen wir zugestehen, dass der Fortschritt in Richtung Kreislaufwirtschaft langsamer verläuft als es der Fall sein könnte – und sollte. Obwohl die notwendigen Technologien existieren. Und obwohl Studien wie die vo Accenture und Material Economics eine Korrelation zeigen zwischen dem Engagement für die Kreislaufwirtschaft und erheblichen Vorteilen für Unternehmen wie auch die Gesellschaft im Ganzen.

Heute werde ich darüber sprechen,

  • warum das Konzept des digitalen Produktpasses (DPP) ein Schlüssel zur Kreislaufwirtschaft im globalen Maßstab ist,
  • wie u. a. eine Art Gefangenendilemma viele Unternehmen, insbesondere KMU, davon abhält, DPPs einzuführen, obwohl große Unternehmen hieran längst arbeiten,
  •  und welche Schritte wir unternehmen müssen, wenn wir trotzdem den notwendigen Durchbruch erreichen wollen.

 

Von digitalisierter Produktherstellung zum digitalisierten Produktlebenszyklus

https://catena-x.net/de/In aller Kürze: Was ist ein DPP? Es handelt sich dabei um eine digitale Sammlung aller relevanten Informationen über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts von der Rohstoffbeschaffung bis zum Ende seines Lebenszyklus und darüber hinaus, d. h., wenn die Komponenten und Materialien des Produkts recycelt oder wiederverwendet werden. Die Grundidee ist nicht sonderlich neu, sie ist analog zu Konzepten wie dem "digitalen Zwilling", der "Environmental Product Declaration" und dem "Material Passport", die in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert oder umgesetzt werden.

Im Idealfall enthält es alle Daten zu den Werkstoffen, Komponenten und chemischen Substanzen eines Produkts sowie alle relevanten Informationen aus der Lieferkette, zur Reparierbarkeit, zu den Ersatzteilen und zu den Anweisungen für die ordnungsgemäße Entsorgung. Dies schafft ein Maß an Transparenz, das unerlässlich ist für jede sinnvolle Maßnahme zur Optimierung von Design, Produktion, Verwendung und Entsorgung/Wiederverwendung/Recycling des betroffenen Produkts.

So eine Transparenz will etwa die Circular Cars Initiativeschaffen, eine Multi-Stakeholder-Zusammenarbeit des Weltwirtschaftsforums und des World Business Council For Sustainable Development (WBCSD), die neue Technologien und Geschäftsmodelle fördert, damit die Automobilindustrie das 1,5-Grad-Klimaziel des Pariser Abkommens erreichen kann. Ähnliche Initiativen gibt es in der Elektronikindustrie, zum Beispiel PACE (Platform for Accelerating the Circular Economy). Große Branchenakteure, von den größten Automobilherstellern bis hin zu High-End-Elektronikherstellern, haben bereits beeindruckende Fortschritte auf dem Weg zur geforderten Transparenz bei der Einhaltung von Materialrichtlinien und der Nutzung von Ressourcen durch digitale Technologie und Informationsaustausch gemacht, zum Beispiel in Form des äußerst erfolgreichen Internationalen Materialdatensystems (IMDS) der Automobilindustrie, dem ersten Instrument auf Branchenebene, das von vielen relevanten Akteuren der Automobilindustrie übernommen wurde, darunter OEMs und Zulieferer auf der ganzen Welt. Und eine neue Initiative, Catena-X , entwickelt nun Rahmenbedingungen für den Austausch von noch mehr Produktdaten.

Genau diese Kombination aus Technologie, Standardisierung und Kooperation brauchen wir, um Mechanismen und Geschäftsmodelle der Kreislaufwirtschaft flächendeckend umzusetzen.

Gegenseitiges Misstrauen ist rational verständlich, aber nicht produktiv

Für viele Entscheidungsträger in Unternehmen, vor allem in KMU, kann es jedoch eine beängstigende Forderung sein, Informationen über ihre Produkte und Lieferketten mit ihrem Marktsegment – d. h. ihren Wettbewerbern – zu teilen. Das spezifische Wissen ihres Unternehmens ist schließlich ein entscheidender Faktor für dessen Erfolg – und Überleben. Warum sollte man also riskieren, auch nur einen kleinen Teil davon preiszugeben? So verlockend zirkuläre Geschäftsmodelle auch sein mögen – dieses Gefangenendilemma ist in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen:

Sicher, wenn alle kooperieren würden, wäre das Ergebnis für alle das bestmögliche. Wenn aber nur ich kooperiere und andere mich betrügen, würde das für mich persönlich das denkbar schlechteste Ergebnis bringen, während die anderen Spieler zumindest einigermaßen gute Ergebnisse erzielen, wenn auch nur für sich selbst.

Es ist verständlich, wenn man in einem solchen Szenario beschließt, andere Akteure präventiv zu hintergehen – oder ihnen zumindest nicht zu vertrauen –, selbst wenn dies bedeutet, dass man das bestmögliche Ergebnis dafür aufgibt, in diesem Fall eine Kreislaufwirtschaft, die allen Beteiligten massiv nützt. Experimente haben gezeigt, dass rationale Wesen – und das sind Menschen, meistens zumindest – viel häufiger dazu neigen, diesen Weg zu gehen, als ihrem Gegenüber blind zu vertrauen.

Diese Art von Misstrauen ist natürlich nicht das einzige Hindernis auf dem Weg zur flächendeckenden Einführung von DPP. Die fehlenden Standards für Datenformate und Austauschkanäle beispielsweise ist ein mindestens ebenso wichtiger Faktor. Aber auch hier ist eine Zusammenarbeit über ganze Branchen, Märkte, Volkswirtschaften, zwischen Partnern und Wettbewerbern erforderlich. Man muss sich zusammenfinden, einander zuhören und Informationen austauschen – und schon sind wir wieder beim Gefangenendilemma, von dem ich gerade gesprochen habe.

Die Lösung: ein Mix aus Regulierung, Mentalitätswandel und Technologie

Wie immer im Leben gibt es keine einfache und singuläre Lösung für ein so komplexes Problem. Stattdessen müssen wir mehrere Wege gleichzeitig beschreiten.

Der erste Weg besteht in politischen und regulatorischen Initiativen wie der neue Aktionsplan der Europäischen Kommission für die Kreislaufwirtschaft, die japanische Vision 2020 für die Kreislaufwirtschaft oder der 14. chinesische Fünfjahresplan für die Entwicklung der Kreislaufwirtschaft. Die Kombination von Anreizen und regulatorischem Druck wird zweifellos viele Entscheidungsträger motivieren, neue Wege zu gehen.

Aber extrinsische Motivation ist eine schwache Basis für nachhaltige Fortschritte in Richtung der Art von "Koopetition", die in der künftigen Kreislaufwirtschaft notwendig ist. Kurzfristig kann das für einzelne Maßnahmen funktionieren, aber der zweite Weg wird darin bestehen müssen, dass Entscheider ihre Einstellung dazu ändern, wie man ein Unternehmen heute und in Zukunft führt. Die Wahrung und der Schutz von Betriebsgeheimnissen und speziellem Know-how im eigenen Unternehmen wird immer ein berechtigtes Interesse sein – und ein wichtiger Faktor für unternehmerischen Erfolg. Aber aktuelle Entwicklungen wie Glokalisierung, beschleunigte Innovationszyklen, der Durchbruch von Geschäftsmodellen wie X-as-a-Service und natürlich die notwendige Transformation unserer Wirtschaft von linear zu zirkulär verlangen von Führungskräften mehr als nur das Einmauern ihrer Burg: Es geht heute darum, abzuwägen, was man für sich behält und wo man sich anderen gegenüber öffnet, um die großen Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam bewältigen zu können.

Aber das ist natürlich leichter gesagt als getan. Selbst beim besten Willen zur Zusammenarbeit stellt sich die Frage: Wie setzt man das um? IT-Systeme, die Grundlage und Plattform für alle digitalen Vorhaben wie das DPP, sind so gut wie immer Brownfield-Systeme. Sie sind auf die Bedürfnisse eines einzelnen Unternehmens spezialisiert und nicht ausgelegt für den Austausch standardisierter Daten mit dem gesamten Marktsegment. Deshalb habe ich mich entschlossen, in Unternehmen wie CircularTree oder Q-nnect zu investieren und diese aufzubauen, weil sie Lösungen speziell für dieses Problemfeld anbieten. Q-nnect beispielsweise agiert mit seiner digitalen Q!-Plattform als Broker zwischen verschiedenen Systemen über ein harmonisiertes Meta Layer: Sie ermöglicht es Wettbewerbern, ihre IT-Landschaften notwendige Informationen für die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit austauschen zu lassen und gleichzeitig Identitäten und sensible Daten durch Anonymisierung zu schützen. Dies geht einher mit einem Low-Code-Ansatz, der die Implementierung und Konfiguration solcher Prozesse auch angesichts des allgegenwärtigen Fachkräftemangels gerade im digitalen Bereich einfach macht. Die Verbindung mit einem Business Layer von CircularTree ermöglicht es Unternehmen, interne Daten künftig auf mehreren Plattformen verfügbar zu machen.

Es gibt viel Misstrauen und Konflikte in der Welt, in Zeiten, in denen die Welt stattdessen zusammenkommen müsste, um einige der gefährlichsten Krisen zu lösen, mit denen die Menschheit je konfrontiert war – Klimawandel und Ressourcenknappheit. Regulierung ist notwendig und wird kommen, aber sie wird uns nur bedingt weiterbringen. Wenn der Wandel zur Kreislaufwirtschaft gelingen soll, müssen wir das Konzept der Koopetition akzeptieren – umso besser, dass es Technologien gibt, die die Umsetzung dieses Konzepts einfach und sicher machen.

Machen wir uns an die Arbeit. Gemeinsam.